Serenade in Moll

Nur hin und wieder drang das Sonnenlicht durch das Blätterdach der mächtigen Linden. Dort, wo es den sandigen Weg erreichte, deutete es für Augenblicke ein liebliches Farbenspiel an. Gleich daneben lag der Wegesrand im tiefsten Schatten.

 

Die stille Allee hinter dem schweren, dunklen Eisentor, sonst allein der gräflichen Familie vorbehalten, war heute gesäumt von Menschen jeglichen Alters. Leger gekleidet oder im Sonntagsstaat strömten die Besucher in den Schlosspark. Der milde Junihauch, der die Luft erfüllte und die Lampions in den Bäumen zart berührte, versprach einen ausgelassenen und festlichen Abend. Wie alle zwei Jahre bildete die Lütetsburger Schlosspark-Serenade einen der musikalischen Höhepunkte des sommerlichen Norderlandes. Eine Night of the Proms der ländlichen Art, ehrenamtlich vom Norder Stadtorchester unter Mitwirkung von Hilfsorganisationen und Vereinen ausgerichtet und im Glauben an den guten ostfriesischen Himmel im Freien veranstaltet.

 

Tänzer und Kleinkünstler boten schon jetzt am Rande des großen Rasenkarrees ihre Kunststücke dar, während die Gastronomen in Pagodenzelten mit adeligen Wortkreationen für ihre Genusskultur warben. Und ganz innig, fast verstohlen, sah man abseits vereinzelte Pärchen – flanierend zum ockergelben Freundschaftstempel, durch seine Fenster in das kleine Rund lugend und von ihrer zukünftigen Vermählung träumend.

 

Durch das Innere des Wasserschlosses an der Lütetsburger Landstraße eilten derweil die schwarz gekleideten Musiker des Stadtorchesters. Lampenfiebertrunken stellten sie allenthalben ihre Instrumentenkoffer ab, und durch die dreimannshohen Glastüren des dämmrigen Ahnensaales bahnten sie sich ihren Weg auf die provisorische Bühne und ihre Plätze. Das vielstufige Künstlerpodest nahm die ganze Schlossterrasse ein und endete unmittelbar an den morastigen Untiefen des ruhenden Burggrabens.

 

Am gegenüberliegenden Ufer hatten erwartungsfroh die gut betuchten Gäste in artigen Stuhlreihen rund um die junge gräfliche Familie Platz genommen. Dahinter erstreckte sich die 60 mal 80 Meter messende Parkwiese, die sommersprossengleich von bunten Picknickdecken und einem Vielklang menschlicher Farbtupfer bevölkert wurde. So jedenfalls musste es durch das Objektiv des rastlosen Fotografen wirken, der die Szene auf dem Großen Parterre vom Schlossturm aus für die Zeitungsleser ins Visier nahm.

 

Als der Konzertabend um kurz vor acht mit einem furiosen Trommelwirbel einsetzte, hatte das Publikum zur Ruhe und zur nötigen Andacht gefunden. Die Musiker und Sänger begeisterten in der Folge in Soloparts oder Ensembleauftritten mit einem Querschnitt durch die populäre Welt der Klassik. Die Balletteusen der Kunstschule begleiteten sie dabei zuweilen mit farbenfrohen und schwebenden Tanzeinlagen.

 

Die Vorderseite des ab 1956 wiedererbauten Wasserschlosses war zu dieser Zeit nahezu verwaist. Selbst der Klappstuhl des Pyrotechnikers, der auf dem Rundplatz der historischen Vorburg alle Vorbereitungen für das abschließende Feuerwerk getroffen hatte, war kurzzeitig verlassen. Aber es war kaum zwanzig Meter von dieser Stelle entfernt, dass sich bald nach der Pause ein Ruderboot an der schweren Brücke zur Lütetsburg losriss und sein Inhalt wider Erwarten die Zündkraft des spätabendlichen Feuerwerks übertraf. Und hatte Bernd Fuhrmann als musikalischer Leiter und Moderator des Abends zuvor noch gescherzt, dass nach altem Recht alles, was im Burggraben lande, dem Grafen zufalle, woraufhin man auch bei der Serenade von Jungfrauen gehört habe, die sich bei Gefahr für Leib und Leben in die dunklen Wasser stürzen wollten, so sollte dieser Ausspruch nur anderthalb Stunden später seine Heiterkeit einbüßen.

 

Der zweite Teil des Konzertabends näherte sich seinem Ende und mit hereinbrechender Dämmerung hatte sich auch ein Gefühl von Kühle, ja von Klammheit, auf den Picknickdecken und Stühlen breitgemacht. Nicht ohne Grund, denn eine milde Brise wehte nun von der Vorburg herüber und in ihrem Schwang trieb auch die dunkle Barke, wie von unsichtbarer Schnur gezogen, in Richtung des Schlossparks. Als die ersten sprühenden Funken des Feuerwerks am Himmel erschienen, versprachen sich auch die sensibleren Gemüter noch einmal einen Augen- und Ohrenschmaus, bevor sie bald in die heimische Wärme flüchten würden.

 

Noch immer regierten die farbenfrohen und polternden Himmelsbilder in das musikalische Finale, als plötzlich ein kleines Mädchen in Ufernähe aufsprang und ängstlich auf das nahende Treibgut wies. Sein älterer Bruder rief hierdurch aufgeschreckt: „Lisa, der Mann will uns rammen!“

 

Doch als der Kahn schließlich im Schlaglicht der Feuerfontänen dumpf gegen das Ufer stieß, schien es den Geschwistern, als ob der Angespülte schlafe. Doch in dem Ruderboot regte sich kein Leben mehr, und der stadtbekannte Anwalt, der wenig später im Taschenlampenlicht geborgen wurde, zeigte das erstarrte Gesicht eines vom Tode überraschten Mannes.

 

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© 2012 Lübbert R. Haneborger

 

Auszug aus: Haneborger, Lübbert R.: Serenade in Moll. In: Ders. und Silke Arends (Hg.): Neun Gemäuer – Neun Verbrechen. Krimianthologie. Mit Kurzportraits der Burgen und Schlösser und Beiträgen von Klaus-Peter Wolf, Andreas Scheepker, Usch Luhn, Bernd Flessner, Manfred Reuter, Jutta Oltmanns, Désirée Warntjen, Silke Arends und Lübbert R. Haneborger. Norden: Edition Ostfriesland Magazin, Ostfriesland Verlag-SKN 2012, S. 112-125.

- mit freundlicher Genehmigung der Verlagsleiterin, Frau Basse, und des Autoren, Herrn Haneborger
- mit freundlicher Genehmigung der Verlagsleiterin, Frau Basse, und des Autoren, Herrn Haneborger